Hermann Ieland

Mit Wehmut in die Vergangenheit
Ich habe immer wieder Anfälle von Wehmut, wenn ich an meine persönliche Vergangenheit denke. Das betrifft vor allem meine Schulzeit, die Anfänge meines Studiums und die frühen Phasen von Freundschaften. Manchmal denke ich zurück und überlege, was ich in jüngeren Jahren gerne mehr gehabt oder lieber gemacht hätte. Dann schaue ich mir vor allem Youtube-Videos an, die dem sehr nahe kommen.
Ein paar Beispiele: Meine beiden Leistungskurslehrer (Latein und Geschichte) haben mir beide viel Lebensweisheit mit auf den Weg gegeben, wenn auch auf unterschiedliche Weise. Ich bedauere, dass ich nicht noch mehr mitgenommen habe.
Der Geschichtslehrer war ein Lebenskünstler, Italienliebhaber, Gourmet und Genussmensch. Ein Mann, der Sprachen liebte, sehr gesprächig war, chaotisch in seinem eigenen Leben, aber gut im Organisieren für andere. Ich war bei seiner Beerdigung 2011, leider ist er viel zu früh gestorben. Ich habe noch nie so viele Menschen auf einer Beerdigung gesehen. Ich habe immer sehr intensiven Kontakt zu ihm gesucht, weil ich wusste, dass ich viel Praktisches von ihm lernen kann. Ich glaube, dass er trotz meiner analytischen und kühlen Art, mich für Kunst, Architektur und gutes Essen zu interessieren, einen entscheidenden Einfluss auf mich hatte. Durch ihn habe ich viel über zwischenmenschliche Ereignisse und Beziehungen gelernt und darüber, was im Leben passieren kann. Aber auch, was es bedeutet, freundlich, vertrauensvoll und positiv zu sein.
Mein Lateinlehrer, Direktor am Gymnasium, war anders. Streng, aber fair. Laut, aber nicht ungerecht, auch wenn seine Schüler Mist gebaut hatten. Scheinbar schlecht gelaunt, aber wenn man ihn kannte, wusste man, dass das nur eine Strategie war, um sich Respekt zu verschaffen. Auch ein Lebenskünstler, wenn auch mehr dem Bier, dem Wein und der Zigarette zugetan. Erst im Nachhinein habe ich erfahren, dass er gute Kontakte zur baden-württembergischen Landesregierung hatte und diese gerne zum Wohle seiner Schule eingesetzt hat. Von ihm habe ich viel philosophisches Wissen über die Stoa mitgenommen. Aber auch gelernt, wie wichtig es ist, nützliche Beziehungen aufzubauen und zu pflegen. Von ihm habe ich mir den bösen Blick und die distanzierte Mimik als Mittel abgeschaut, um respektiert zu werden. Wie wichtig es ist, sich im politischen Spiel gut zu bewegen. Seine Beerdigung war im Jahr 2022. Auch damals waren sehr viele Menschen da. Ich hätte gerne mehr von ihm über den Aufbau von Netzwerken gelernt.
Warum erzähle ich das? Wenn ich über diese Zeit nachdenke, wünsche ich mir sehr, dass ich damals reifer gewesen wäre und mehr Lebensweisheit mitgenommen hätte. Natürlich ist es immer eine Frage, wie nahe man als Schüler einem Lehrer kommen kann. Ich habe es so gut wie möglich versucht. Natürlich habe ich mich immer bemüht, mein Bestes zu geben, zu lernen und mitzunehmen. Nach der Beerdigung meines Latein-LK-Lehrers habe ich mich mit meinem Klassenkameraden unterhalten. Wir sind beide zu dem Schluss gekommen, dass es damals einfach an Reife gefehlt hat und bei vielen, nicht bei mir, auch an Fleiß. Aber ich denke einfach, dass das Leben dieser beiden Menschen so viel Inhalt hatte, dass ich noch mehr hätte lernen können, nicht Lerninhalte, sondern Lebenspraxis. Sicherlich gab es auch weniger schöne Phasen in dieser Zeit, aber die positiven Erinnerungen überwiegen, auch wenn ich eigentlich weiß, dass es nicht so war. An dem Abend, an dem ich von seinem Tod erfahren habe, habe ich es tatsächlich geschafft, innerhalb von zwei Stunden alle ehemaligen Mitschüler aus dem Leistungskurs zu finden und über die bevorstehende Beerdigung zu informieren. Das war mir einfach wichtig. 
Die zweite Zeit, an die ich manchmal zurückdenke, ist meine erste Studienzeit. Wenn ich an die frühen 2000er Jahre zurückdenke, mit den großartigen Trance- und DNB-Partys auf Ibiza oder in Großbritannien, hätte ich mir gewünscht, dass ich das auch erlebt hätte und mein Studium ein Jahr später abgeschlossen hätte. Stattdessen habe ich gehorsam und fleißig Vorlesungen besucht und gelernt. Im Nachhinein hätte ich in dieser Zeit des frühen Erwachsenwerdens gerne etwas mehr „gelebt“. Aber ich glaube, ich hatte einfach Angst, Lerninhalte zu verpassen oder Zeit zu verschwenden. Außerdem war es mir damals aus gesundheitlichen Gründen nicht möglich, viel Alkohol zu trinken. Das wäre mit erheblichen Risiken verbunden gewesen. Heute denke ich, dass mehr „Lebenszeit“ damals besser gewesen wäre. Es hätte mir die Sehnsucht genommen, das zu erleben, was ich damals erleben hätte können. Natürlich habe ich versucht, das damals nach meinem Studium in Deutschland in meinem Auslandssemester nachzuholen, aber irgendwie war ich dann schon Ende 20 und irgendwie war es nicht mehr das Gleiche. Aber was genau ist das? Na ich glaube einfach das Gefühl von Jugend, mit Freiheit, guter Musik, Volleyball, durchzechten Nächten, mehr Alkohol, Strand und hübschen Mädchen. Und nicht viel nachdenken, auf morgen verschieben. Irgendwie war ich viel zu lange verstockt, auf Lebensklugheit bedacht und ehrgeizig. Das hat mich einige schöne Erinnerungen gekostet und sicher auch Bekanntschaften. Gemeinsame Erinnerungen und Geschichten, an die man sich gerne erinnert. Vielleicht auch an solche, die man heute als peinlich oder lächerlich empfinden würde, an die man sich aber einfach erinnert. Ich glaube, das habe ich in meinen Zwanzigern zu wenig erlebt. Das bedauere ich heute. Jemand, der das sehr exzessiv gelebt hat, war ein langjähriger Freund, der mir in dieser Hinsicht sehr viel vorgelebt hat. Ich war immer neidisch auf seine offene und freche Art, auf Menschen zuzugehen und schnell neue Bekanntschaften zu machen. Er hingegen war immer neidisch auf meine fleißige und zielstrebige Art. Vielleicht ist das ein Grund, warum ich mich heute besonders gegenüber meinen Mitarbeitern bemühe, juvenil und locker aufzutreten. Ganz einfach, weil ich glaube, dass man so besser Kontakte knüpfen kann. Sicherlich habe ich mit meinem großen Ehrgeiz keinen Fehler gemacht, im Sinne von mein Studium vermasselt oder so, aber ein fader Beigeschmack bleibt trotzdem.
Was lerne ich aus dieser Erkenntnis? Nun, jedes Alter hat seine Vor- und Nachteile. Ich finde, man sollte jedes Lebensalter leben und ausprobieren, was einem in den Sinn kommt. Sonst hat man später irgendwie das Gefühl, etwas zu verpassen oder verpasst zu haben. Natürlich muss man abwägen, dass so ein Leben nicht Wohlstand oder Wohlergehen in der Zukunft kostet. Natürlich kann man das Versäumte nachholen, aber es wirkt etwas deplatziert und hat etwas von einer Midlife-Crisis, wenn sich über 40-Jährige wie 20-Jährige verhalten. Außerdem bewertet man später eben anders als in jüngeren Jahren. Natürlich verklärt man die Vergangenheit. Denn die Psyche ist darauf programmiert, Negatives zu vergessen und Positives zu betonen. Wichtig ist, dass man sich immer bewusst ist, dass es auch viel Negatives gab, egal wie positiv man eine Zeit in Erinnerung hat.

Eine Antwort

  1. Dein Text lässt tief blicken….klingt sehnsüchtig und doch klar…. vernünftig ohne ausgelassen zu sein!
    Sich nach etwas Sehnen oder Sein zu wollen wie andere, kostet uns nur Kraft und Gedanken, man kann es sowieso nicht (mehr) ändern!
    Sei du selbst…. jeder ist geprägt vom Leben und hat seine Zukunft selbst in der Hand!

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