Hermann Ieland

Minimalismus: Das Mittel ist nicht das Ziel
Unsere Welt ist komplex und unübersichtlich geworden. Wir sind abgelenkt durch unsere Warenwelt, wir sind Umsatzbringer und Steuerzahler, wir kaufen ein, wir binden Ressourcen und Zeit. Da kommt uns der Minimalismus gerade recht. Ein Konstrukt ohne (missbrauchten) ideologischen Hintergrund. Niemand hat ein institutionelles oder ökonomisches Interesse daran. Es scheint, als könne man ihn zur Privatphilosophie machen. Endlich etwas, woran man glauben kann, ohne dafür Nachteile, Steuern oder Kosten in Kauf nehmen zu müssen. Und das wird auch getan. Es wird gebloggt, was das Zeug hält, man trifft sich, tauscht sich aus in minimalistischen Kaffeekränzchen. Die Frage, die sich mir dabei stellt: Warum muss man etwas ( Minimalist ) sein, anstatt einfach etwas ohne ideologischen Hintergrund zu tun? Warum muss ich Minimalist sein, anstatt einfach bescheiden zu leben? Das verstehe ich nicht. Warum steckt man sich in Schablonen und Schubladen? Oder ist das nur Selbstdarstellung? Warum muss man aus allem gleich einen Trend oder eine Mode machen?

Ich habe viele Blogs gelesen. Es gibt ein Muster. Hehre Ziele: „Man ist jetzt…“ und nach 1-2 Jahren ist der Blog verwaist. Oder man verliert sich im Banalen: Herausforderungen, Urlaubserlebnisse, Tipps zum Ausmisten, Finanzplanung, Einrichtungsdesign, Dinge, die man losgeworden ist oder Basteltipps. Viele Blogger schwärmen von dem, was sie nicht mehr haben: „Seht her, das und das habe ich entsorgt“ oder „Was ich zuletzt losgeworden bin“ oder „100 Sachen Challenge“. Gerne werden Blogs auch als Vehikel genutzt, um den eigenen Bestseller zum Thema zu verkaufen oder ganze Roadshows damit zu untermalen. Populistisch nervende Kurzdokus über die „Anderen“ oder die „Alternativen“ unterstützen das Gefühl des Nicht- und Andersseins. Ist das Minimalismus?
So neu ist der Minimalismus nicht. Seit Jahrtausenden ist er Bestandteil der Weltreligionen und der Philosophie. Ziel ist es, den Fokus auf das jeweilige Dogma, das hinter der Lehre steht, zu verschieben. Warum wird der Minimalismus nicht selbst zur Religion? Ich glaube, es fehlt der spirituelle Inhalt. Es gibt zwar Geschäftsleute wie Marie Kondo, die das Aufräumen zum Inhalt erheben. Aber es fehlt das Machtinteresse von Menschen, die eine Sekte zur Religion machen und sich als deren Führer aufspielen. Im Christentum war das z.B. der Kirchenvater Augustinus.

Die entscheidende Frage, die sich stellt, wenn man Minimalismus lebt, was meiner Meinung nach nichts anderes ist als Bescheidenheit, ist: Was kommt danach? Womit fülle ich die frei gewordene Zeit? Der Minimalismus gibt darauf keine Antwort. Stattdessen sagt er nur: „Fülle sie nicht mit Gerümpel“, er räumt vielmehr, wie bei mir, das Leben auf, was gut ist, aber selbst kein Inhalt sein kann. Es bereitet nur den geistigen Raum für neue Prioritäten. Und diese Prioritäten muss man dann auch definieren und nicht im Ausmisten verharren. Die Gefahr, danach wieder in alte Muster zu verfallen, ist nicht gering. Wenn das passiert, dann war der Minimalismus ein netter Ausflug, der aber gescheitert ist. Denn Selbstdisziplin, Vorsätze oder Absichten sind in unserer Konsumwelt schwer zu erreichen. Ich kämpfe selbst damit. Aber Menschen brauchen Ziele und Perspektiven. Ich halte es für eine sehr gute Idee, sich Lebens- und Jahresziele zu setzen. Für ein gutes Leben ist es absolut notwendig, mit Zufriedenheit auf das zurückzublicken, was man erreicht hat.
Lebensziele verfolgt man über mehrere Jahre. Es sind große Themen wie Ausbildung, eine Partnerschaft, ein bestimmter Beruf, Familie, ein soziales Beziehungsnetz, ein bestimmter Besitz. Am Ende des Jahres definiere ich für mich Jahresprojekte für das kommende Jahr, die ich neben meiner Arbeit verwirklichen möchte. Das sind meist ganz unterschiedliche Dinge: Orte, die ich besuchen möchte, Dinge, die ich schaffen möchte, Dinge, die ich lernen möchte, Menschen, die ich wiedersehen möchte, Dinge beschaffen, die ich austauschen muss, Veranstaltungen, die ich besuchen möchte. Es ist sozusagen eine jährliche Bucket List.
Die Idee dahinter ist, dass man sich gut überlegt, wie man seine Zeit verbringen möchte, denn sie ist das Kostbarste, was wir haben. Die Zeit, die man damit verbringt, sollte im Einklang mit dem stehen, was einem persönlich wichtig ist.

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