Hermann Ieland

Für immer jung? Warum wir im Alter gerne wiederholen, was wir früher liebten
Vor einigen Wochen verbrachte ich ein Wochenende in meinem geliebten Heidelberg. Dort war ich abends tanzen im Hallo 02 bei einem Gastspiel des Hospitality Plattenlabels, unter dessen Label regelmäßig verschiedene Drum and Bass DJs in Europa auflegen. Seit meiner Studienzeit Anfang der 2000er Jahre bin ich immer wieder auf DNB, wie ich es gerne nenne. Nach einer sehr langen und bewegten Nacht habe ich am nächsten Tag im Sonnenschein darüber nachgedacht, warum ich das in meinen 40ern immer noch mache. Schon letztes Jahr hatte ich das lustige Erlebnis, dass zwei Jungs, ich schätze 19 oder 20 Jahre alt, mich und einen damaligen Kumpel angesprochen haben, dass sie es toll finden, dass wir in unserem Alter noch zu solchen Veranstaltungen gehen. Meine Reaktion war damals ganz einfach: „Ich höre schon DNB, da seid ihr noch gar nicht gezeugt worden.“ Das hat mich damals schon ein bisschen geärgert, denn wenn ich auf DNB bin, fühle ich mich immer noch jung und gar nicht alt. Aber vor zwei Wochen, an diesem schönen, sonnigen Morgen im noch schöneren Heidelberg, habe ich mich gefragt, warum Menschen oft auch im Alter zu Dingen oder Hobbys aus ihrer Jugend/Kindheit zurückkehren. Beispiele dafür gibt es viele. Erwachsene Männer, die sich Modelleisenbahnen kaufen, sich genau die Lego-Burg kaufen, die sie schon immer haben wollten, aber nie bekommen haben, oder sich einen Sportwagen kaufen, weil sie als Kinder gern mit Autos gespielt haben. Bei mir ist es so, dass ich auf die DNB gehe oder an die Zeit denke, in der ich während meines Studiums in Spanien surfen war. Ich denke oft daran, obwohl ich weiß, dass ich körperlich nicht mehr dazu in der Lage bin und es auch nie wirklich gut war.
Was ist das genau? Diese Verwirklichung von Kinder- oder Jugendträumen im fortgeschrittenen Alter? Ich denke, dass man damals Sehnsüchte oder Wünsche hatte, die man nicht verwirklichen konnte oder die man als sehr positiv erlebt hat und die man wieder haben möchte. Ich denke auch, dass man versucht, dieses ersehnte Gefühl doch noch zu bekommen, wenn auch später. Aber ich merke immer mehr, dass das Gefühl, wenn man älter wird, einfach ein anderes ist. Man begeistert sich nicht mehr für das, wofür man sich früher begeistert hat. Es ist auch so, dass die Dinge immer anders kommen, als man erwartet. Erwartungen erfüllen sich selten so, wie man es sich vorgestellt und erhofft hat. Dahinter steht der Wunsch, sich einfach wieder so zu fühlen, wie man sich als Kind oder Jugendlicher gefühlt hat, und zwar frei. Das menschliche Motiv dahinter ist der Wunsch nach Freiheit, Unbeschwertheit und Ungezwungenheit. Je älter man wird, desto mehr merkt man, wie abhängig man ist, von der Arbeit, vom Staat, von Dritten, vom Rentensystem, von irgendwelchen anderen Systemen oder von Verpflichtungen, die man sich selbst auferlegt hat. Davon wollen wir uns befreien. Je mehr in einem Land reguliert wird, desto größer ist die Sehnsucht nach Freiheit. Aber es steckt noch etwas anderes dahinter. Vielleicht will man sich hier und jetzt einfach nicht mit dem Alter auseinandersetzen. Der körperliche Verfall, die geistige Einfalt, wenn man sie nicht trainiert, beides kann einen Menschen leicht depressiv machen. Da ist die gedankliche Flucht in die Zeit, in der man noch wächst, sich stark fühlt und geistig so flexibel ist wie ein Kaugummi, eine hervorragende Ablenkung. Was steckt dahinter? Nun, ich denke, es ist einfach der eigene Unwille, sich der eigenen Realität zu stellen. Nicht in der Lage zu sein, ein neues Selbstbild zu schaffen, das sich auf das ältere Ich bezieht. Dabei ist es doch so wichtig, im Hier und Jetzt zu leben. Man muss sich darüber klar werden, wer man geworden ist, was man heute will und was man heute (noch) kann. Eine Liebe zu sich selbst zu entwickeln, ohne einem verblassten Selbstbild aus der Vergangenheit hinterherzulaufen, in dem man wiederholt, was man früher gerne gemacht hat oder gerne gemacht hätte. Es ist besser, ein Leben zu führen, das seinem Alter entspricht, um sich seine eigene Würde zu schaffen und zu bewahren. Und trotzdem gehe ich dieses und nächstes Jahr wieder zur DNB. Aber ich glaube, spätestens mit 50 höre ich auf, oder früher, je nachdem, wie lange ich noch nicht alt aussehe. Es gibt nichts Schlimmeres als ergraute Mittfünfziger, die denken, sie seien Mitte zwanzig und sich auch so benehmen. Zum Glück wächst mein Interesse an Oper und klassischer Musik, das ist zeitlos 😉

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