Vor einigen Wochen war ich zu einer Hochzeit in der Nähe von Kattowitz eingeladen. Am Tag vor der Trauung beschloss ich, Auschwitz zu besuchen. Nachdem ich in der Schule so viel über Geschichte gelernt habe, dachte ich, es wäre angemessen, diesen sehr unglücklichen Ort zu besuchen. Warum das? Nun, ich glaube einfach, dass man durch Anschauung lernt, weniger durch Fakten und Bücher. Ich habe eine englischsprachige Führung gebucht, die sehr neutral und sachlich durch die Stätten geführt hat. Ich habe sowohl das Stammlager als auch Birkenau besucht.
Das Stammlager ist sowohl von außen als auch von innen sehr gut erhalten. Durch diese Darstellung bekommt man einen direkten Bezug zu den Menschen, die dort leben mussten und gestorben sind. Es sind viele Fotos, Modelle, Nachbildungen von Räumen und auch Gegenstände ausgestellt, die das Ausmaß würdig und anschaulich dokumentieren. Man bekommt durch diese Anschaulichkeit ein sehr gutes Gefühl für die bedrückende Geschenisse dort. Das ganze Lager, auch die Gaskammer, ist gut erhalten bzw. restauriert.
Birkenau ist sehr weitläufig. Das Haupttor ist gut erhalten. Einige Baracken sind restauriert. Die Eisenbahnschienen sind original. Von den meisten Baracken sind nur die Schornsteine erhalten. Die Gaskammern liegen in Trümmern und gleich daneben ist das Mahnmal.
Als ich so über das Gelände in Birkenau ging, hatte ich irgendwie das Gefühl, wie ruhig und still doch alles wirke. Es war ein Sommerabend, warm, hell und friedlich. Ich habe mich gefragt, warum ich das gerade so empfinde. Ich habe gerade im Stammlager einige Besucher gesehen, die emotional sehr aufgewühlt waren. Ich war da etwas distanzierter. Ich glaube, ich bin eher faktenorientiert und Geschehnisse erreichen mich auf anderen Ebenen schwerer. Das liegt vielleicht aber auch daran, dass inzwischen 80 Jahre vergangen sind und der direkt Bezug nicht intensiv vorhanden ist. Ich habe das in den Kontext der heutigen Zeit gestellt. Ich glaube, es ist normal, dass Dinge, die sehr lange zurückliegen und über die man viel weiß, die Menschen nicht mehr so erreichen und dass Tatsachen dann nicht mehr so stark berühren. Im Laufe der Jahre und Jahrzehnte erscheint jeder Ort irgendwann als ruhiger, im Vergleich zu damals, als die Dinge passierten. Unabhängig davon, was dort in der Vergangenheit passiert ist. Vielmehr spielen der eigene Charakter, die Resilienz, das Wissen um das Geschehene, die momentane Befindlichkeit und äußere Dinge wie das Wetter eine Rolle. Gerade weil ich den Tag über in der Vorfreude auf das Fest gut gelaunt war und es angenehm sonnig war, hat es mich nicht so sehr mitgenommen wie andere Besucher. Die eigene Wahrnehmung lässt demnach auch Orte, an denen schlimme Dinge passiert sind, als friedlich erscheinen. Die Tatsachen verlieren in dem einen Moment ihre Schwere.
Was die Ausstellungen in Auschwitz sehr gut gemacht haben, ist die Darstellung von Einzelschicksalen. Wenn man sich mit Faktengeschichte beschäftigt, verlieren Einzelschicksale ihre Relevanz und geraten in Vergessenheit. Aber genau davon lebt Geschichte. Daran sollte man sich erinnern, indem man diese Schicksale konkret sieht. Zum Beispiel was Pfarrer Kolbe widerfuhr. Ich glaube, wenn man sich nicht mehr erinnert, muss man die Dinge konkreter nacherleben, damit sie wieder präsent werden. Deshalb haben Gedenkstätten wie die in Auschwitz ihre absolute Berechtigung. Das ist gerade dann wichtig, wenn man Dinge nicht selbst erlebt hat und sich ein realistisches Bild von etwas machen will, wenn man verstehen will, was woraus entstanden ist. Ich habe gemerkt, dass es schwieriger ist, sich nur an Fakten zu erinnern, als Dinge und vor allem Einzelschicksale gesehen zu haben.
Auschwitz ist das absolute Negativbeispiel dafür, welch fatale Folgen das unreflektierte Befolgen von Dogmen und Doktrinen haben kann und fast zwangsläufig ins eigene Unglück und Verderben führen, physisch und auch psychisch. Es geht hier keineswegs darum, sich moralisch zu erheben, denn dieser Wahnsinn zieht sich leider, wenn auch nicht in dieser Brutalität und Konsequenz, bis heute durch die Geschichte der Menschheit. Auschwitz ist hier das absolute Negativbeispiel dafür, was passiert, wenn man menschliche Niedertracht bürokratisch, administrativ und technisch optimiert in letzter Konsequenz ohne Moral, Gewissen und Ethik ausführt.
Hoffentlich lernt die Menschheit daraus. Leider bin ich mir da nicht so sicher. Ich glaube eher, dass viele ähnliche Regime daraus gelernt haben, sich besser nicht erwischen zu lassen und zu vertuschen. Das ist wirklich traurig in meinem vielleicht naiven Glauben an die ethische, intellektuelle und moralische Entwicklung des Menschen. Dies bestätigt sich immer wieder in diesen populistischen Zeiten, in denen diese Attribute nichts zu zählen scheinen.